Frère Roger: Eine ungeheure Kraft vom Himmel

Frère Roger Schutz und Kardinal Franz König

Im November 1977 fand ein Treffen des Konzils der Jugend in Wien statt. Wolfgang Aumann und ich leiteten dabei gemeinsam in der Pfarre Hernals eine Gruppe. An dem abschließenden Gebetsgottesdienst im Wiener Stephansdom nahm auch Frère Roger Schutz, der Prior der ökumenischen Mönchsgemeinschaft von Taizé, teil.

Die Erfahrung, die mir bei diesem Gebetsgottesdienst geschenkt wurde, habe ich in einem Brief beschrieben, den ich am 15. April 1978 an Karl Mach gerichtet habe. Ich zitiere im Folgenden aus diesem Brief.

„Am Nachmittag vor dem Tag, an dem der Gebetsgottesdienst mit Frère Roger im Wiener Stephansdom stattfand, war bei uns in der Pfarre Hernals Impulsmesse für die Jugend, und die Gruppe der Taizé-Bewegung, die in Hernals zu Gast war, war auch dabei. Vor der Wandlung gab es eine Bildmeditation: Projektion des Freskos mit dem Menschensohn beim Jüngsten Gericht, von Michelangelo. Bei dieser Betrachtung konnte man eine Ahnung von der ungeheuren Kraft des Menschensohnes bekommen.

„Am nächsten Tag saß ich ab 18 Uhr im Stephansdom, mit den Freunden, zwischen Kommuniongitter und Altarstufen, in keiner besonders guten Verfassung. Gelegentlich wurde schon gesungen. Gegen 19 Uhr blickte ich unwillkürlich zur Mitte. Genau in diesem Moment ging Frère Roger die Stufen zum Altar hinauf – ich erkannte ihn nach einer Fotografie und weil er eine weiße Kutte trug – und ich dachte mir, eher resigniert, ‚Da ist er ja‘. In diesem Augenblick traf mich, von ihm kommend, eine sehr gewaltige und zugleich sehr milde Kraft – die Kraft des Menschensohnes, die auch Michelangelo getroffen haben muss.

„Nach dem offiziellen Teil ging Frère Roger zum Kommuniongitter und öffnete es. Vorher hatte ich mir gedacht ‚Also jetzt spielt sich bestimmt nichts mehr ab‘ und war wieder resigniert; als Frère Roger aber vorging, blickte ich unwillkürlich wieder auf und bemerkte es. Außerhalb des Gitters war ein Kranker oder eine Kranke im Rollstuhl. Frère Roger kniete vor dem Rollstuhl nieder und legte der kranken Person die Hände auf den Kopf. In diesem Augenblick fuhr eine ungeheure Kraft vom Himmel und ein sehr sprechendes, nicht von dieser Welt stammendes Licht umgab den Rollstuhl und Frère Roger. Zugleich war der Himmel offen. Die unfassbare Liebe, mit der uns Jesus an sich zieht, gab sich mir direkt zu verstehen – und zugleich die Ewigkeit, denn es war eine so starke, sich dauernd steigernde Dynamik, wie ich sie sonst noch nie erlebt hatte, und zugleich die vollkommene Ruhe der Zeitlosigkeit. DAS IST UNSER ZIEL.

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