Michael Böhnke, Professor aus dem bewegenden Wuppertal bringt mir eine Sichtweise, die meinem christlichen Leben Geist und Kraft gibt. Seine drei Bücher über den Heiligen Geist haben mich begeistert. Sie holen Vergessenes in die Gegenwart und beantworten Fragen, die im Christentum so noch nie beantwortet wurden. Für meinen Blog hat er einen Vortrag zur Verfügung gestellt, den er 2016 vor der Seelsorgeamtsleiterkonferenz gehalten hat und der seine aktuellen Untersuchungen darstellt. (HD)
Pina und Pneuma[1]
Bis zum 24. Juli 2016 präsentiert die Bundeskunsthalle in Bonn eine bemerkenswerte Ausstellung. Mit ihr ist der Versuch verbunden, Lebendigkeit durch die Erschließung von Archivalien zu generieren. Eine Quadratur des Kreises. Lebendigkeit ist Kennzeichen gelebten Lebens. Lebendigkeit gibt es nicht aus dem Archiv. Das Archiv ist etwas für leblose Artefakte. Lässt sich durch die Präsentation von Artefakten Lebendigkeit generieren?
Die Ausstellung in der Bonner Bundeskunsthalle trägt den Titel „Pina Bausch und das Tanztheater“. Pina Bausch gilt als Pionierin des modernen Tanztheaters und als eine der einflussreichsten Choreographinnen des 20. Jahrhunderts. (http://www.pina-bausch.de) Sie ist 2009 verstorben. Das Konzept für die Ausstellung ist in Kooperation mit der Pina-Bausch-Foundation Wuppertal, die das künstlerische Erbe von Pina Bausch verwaltet, erarbeitet worden. „Herzstück der Ausstellung ist der Nachbau der ‚Lichtburg‘ – jenes legendären Proberaums in einem alten Wuppertaler Kino, in dem Pina Bausch den größten Teil ihrer Stücke gemeinsam mit ihren Tänzerinnen und Tänzern entwickelt hat. Fremden wird nur selten Zutritt zu diesem intimen Raum gewährt. In der Bundeskunsthalle aber wird er zum Raum der Begegnung mit Mitgliedern des Tanztheaters, die den Besuchern Bewegungsqualitäten und kleine Bewegungssequenzen vermitteln; Performances, Tanz-Workshops, öffentliche Proben, Gespräche, Filme und mehr lassen ihn zum lebendigen Erfahrungsraum für die Besucher werden.“[2]
Nach dem Tod von Pina Bausch haben die Mitglieder des Tanztheaters beschlossen, ihre Arbeitsweise und ihre Stücke zu tradieren. Seit 2010 macht sich die Pina-Bausch-Foundation Gedanken darüber, wie Tanzen, diese flüchtigste aller Künste, die zudem von Pina Bausch jeder das klassische Ballett prägenden Form entkleidet wurde, vererbt werden könne. Die Bundeskunsthalle bietet dazu in der nachgebauten Lichtburg verschiedene Zugangsweisen: Tanzworkshops, Filme, offene Proben, Lecture-Performances, Trainingsklassen, Talks und performative Intervention sollen dazu dienen, den Geist, der aus dem schöpferischen Werk von Pina Bausch und ihrem Tanztheater Wuppertal spricht, lebendig zu tradieren.
Die Bundeskunsthalle wird mit der nachgebauten Lichtburg zu einem Ort der Inspiration, einem Labor des zukünftigen Umgangs mit dem Schaffen und dem Werk von Pina Bausch.
Ich will es durch ein Beispiel konkretisieren: Das Element 7 x 7 x 5.
„7 Besucher befragen 7 Gäste des Tanztheater Wuppertal – für 5 Minuten. In Form eines Oral History Speed-Datings können Besucher Mitglieder des Tanztheater Wuppertal über ihre Arbeit mit Pina Bausch für jeweils 5 Minuten befragen oder einfach dem Geschehen folgen. Eine spielerische Annäherung an das Werk von Pina Bausch.“
Dies ist nur eine von höchst unterschiedlichen Zugangsweisen. Eine weitere ist die spontane Einladung durch ein Ensemblemitglied, einen markanten Ausschnitt aus einer Choreographie von Pina Bausch mitzutanzen. Filme sind ein weiteres Medium. Eine Literaturliste ermöglicht die wissenschaftliche Auseinandersetzung. Überschrieben ist die Ausstellung mit einem markanten Satz der aus Solingen stammenden Pina Bausch „Mich interessiert nicht, wie die Menschen sich bewegen, sondern was sie bewegt.“ In diesem Sinn will sie mit ihrem Tanztheater für das Leben eine Sprache finden. Die Ausstellung in der Bundeskunsthalle sucht eine Sprache dafür, wie das, was Pina Bausch in ihrem Leben und Schaffen bewegt hat, tradiert werden kann.
Das ist eine interessante Laborsituation. Wie lässt sich die Performance eines Tanztheaters, das formalen Vorgaben eine Absage erteilt hat, weil es elementaren Lebenserfahrungen eine Gestalt geben will, tradieren?
Es gibt einen Kreis von Leuten, die Pina Bausch gekannt, und mit ihr gearbeitet haben. Es gibt eine Stiftung, die sich der Aufgabe verpflichtet fühlt. Es gibt eine umfangreiche Materialsammlung. Es gibt eine Vision, nämlich die, herauszuarbeiten, durch welche Art von Archivierung Vergangenheit ein Ort der Zukunft sein könnte.
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Szenenwechsel: Eberhard Busch hat berichtet, dass Karl Barth 1967 in einem Kolloquium über die Offenbarungskonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils den damals in Tübingen lehrenden Professor Ratzinger mit einer Frage verblüfft habe. Er wollte wissen, „ob die römisch-katholische Kirche vielleicht Angst vor dem Heiligen Geist habe: ‚Warum spielt die Tradition, auch wenn sie jetzt neu verstanden ist, immer noch eine so tragende Rolle für die katholische Kirche? Kommt das etwa aus einer Angst vor dem Heiligen Geist? Lieber Herr Ratzinger, ich frage nur, und Sie werden sich das wohl auch selbst fragen, ist Ihre Kirche vielleicht aufgebaut auf der Flucht vor dem Heiligen Geist?‘“[3]
Zum Kontext dieser Anfrage ist zweierlei zu bemerken: Erstens hat Karl Barth erst in seinen letzten Lebensjahren – er ist 1968 verstorben – den Heiligen Geist wirklich entdeckt. Zwar findet sich bei Barth eine Pneumatologie, doch wird man diese als christozentrisch und in gewisser Weise als geistvergessen charakterisieren müssen. Im Rahmen seines Offenbarungsdenkens begegnet der Geist bei Barth als Kraft der Selbstvergegenwärtigung Jesu Christi. Er ist die „‘Selbstbezeugung Jesu‘ Christi“.[4] „Man kann vom Heiligen Geist und seinem Werk grundsätzlich und allgemein tatsächlich nicht mehr als dies sagen, dass er die Macht ist, in der Jesus Christus sich selbst bezeugt“, heißt es in der Kirchlichen Dogmatik.[5]
Erst im 1968 erschienenen Nachwort zur Schleiermacherauswahl formuliert Barth, dass man die gesamte Dogmatik pneumatologisch reformulieren könnte und sollte.
Zweitens: Es ist unbedingt zu würdigen, dass sich Joseph Ratzinger um die Neuformulierung des Offenbarungsverständnisses und um die neue Sicht der Tradition, die durch die Dogmatische Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils Dei Verbum in der römisch-katholischen Kirche lehramtliche Geltung erlangt haben, verdient gemacht hat. Allerdings hat meinem Eindruck zufolge die Tradition während der Zeit seiner römischen Regentschaft – trotz der von ihm wiederholt betonten Vorordnung der Schrift vor Tradition und Lehramt – unter dem Label der Tradierung des Glaubens die Ausrichtung der Kirche dominiert. Ich nenne nur einige Beispiele: Die hohe Bedeutung, die er der Katechese beigemessen hat und die Wiederauflage der Textgattung Katechismus, die Grundsätze zur Konzilsinterpretation, das Entgegenkommen im Gespräch mit den Piusbrüdern, die liturgischen Reformen, all das ist vom Bemühen um Kontinuität geprägt. Das die Pastoral lange beherrschende Thema der „Weitergabe des Glaubens“ gehört dazu. Es setzt, anders als die für eine lokale Kirchenentwicklung stehende Formel der „Bezeugung des Glaubens“[6] ebenfalls auf Kontinuität als bewahrendes Element.[7]
Nach drei Jahren Franziskus wird langsam deutlich, dass der Aspekt der Kontinuität und damit verbunden die der Tradition geltenden Sorge ein Übergewicht bekommen haben dürfte. So wird Franziskus unter diesem Aspekt bisweilen durch die Glaubenskongregation daran erinnert, dass die bewährte kirchliche Lehre nicht aufgegeben oder aufgeweicht werden dürfte. Das Normative hat sich mit dem Vergangenen verbündet. Das Künftige ist mit Franziskus allenfalls prophetisch erahnbar und durch die Hermeneutik der Barmherzigkeit präsent. Die scharfe Frage von Barth hat sich auch fünfzig Jahre später noch nicht erledigt: „…ist Ihre Kirche vielleicht aufgebaut auf der Flucht vor dem Heiligen Geist?“
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Erneuter Szenenwechsel: Karl Barth hat sich für seine christozentrische Pneumatologie und ihre Hauptthese, dass Jesus Christus sich selbst bezeuge, auf das Johannesevangelium berufen. Seine Pneumatologie ist geistvergessen, insofern er in ihr den Heiligen Geist nur als Macht, nicht aber als Person bezeichnen kann. Das ist vor allem von Michael Welker kritisiert worden. Hinzu kommt, dass Barth von einer Kontinuität ausgeht, die sich im Johannesevangelium nicht findet. Die johanneischen Abschiedsreden kennzeichnet im Gegenteil Diskontinuität. Jesu Fortgang zum Vater wird als Grund und Bedingung der Sendung des Geistes angesehen (Joh 16,7) „Denn der Geist war noch nicht da, weil Jesus noch nicht verherrlicht war“ (Joh 7,39; vgl. 20,21).
Udo Schnelle hat den Evangelisten Johannes aufgrund dieser Diskontinuität als Geisttheologen bezeichnet und zugleich auf die pneumatologische Hermeneutik des Werkes aufmerksam gemacht.[8] Johanna Rahner hat über die Dialektik von Abwesenheit des Erhöhten und Geistsendung zutreffend geurteilt: „Diese Diskontinuität hat Priorität vor jeglichem Versuch des Kontinuitätsgewinns, weil diese Diskontinuität die Möglichkeit der Kontinuität erst eröffnet“.[9]
Otto Dilschneider hat 1961 die Formel von der Geistvergessenheit in der Theologie geprägt. Genau gesagt, hat er in Anlehnung an die Rede von der Seinsvergessenheit der Metaphysik bei Heidegger die Geistvergessenheit der Pneumatologie moniert.[10] Die seinen Beitrag leitende Fragestellung ist die nach der Kontinuität zwischen dem historischen Jesus und dem kerygmatischen Christus. Dilschneider identifiziert den Heiligen Geist als das Kontinuum, der beide Momente in einer „pneumatischen Identität“ (263) zusammenführt. „Es ist das Kontinuum des Geistes, das den historischen Jesus und den kerygmatischen Christus im Zeugnis des Kerygmatikers zusammenbindet und so vereint, dass sich im Kerygmatiker der Christus selber bezeugt“ (263). Das, worum es Dilschneider bei der Überwindung der Geistvergessenheit im Verständnis der göttlichen Selbstoffenbarung ging und geht, ist die Wiederentdeckung der Eigenart des Heiligen Geistes. Die zentrale Einsicht lautet, dass der Geist die Kontinuität zwischen dem historischen Jesus und dem verkündeten Christus im Zeugnis des Kerygmatikers ist. Der Kerygmatiker ist es, der im Geist Christus selber bezeugt.
Papst Johannes Paul II. hat in seiner am 18. Mai 1986 unter dem Titel Dominum et vivificantem[11] veröffentlichten Geistenzyklika die Diskontinuität zwischen Jesu irdischem Wirken und seiner nachösterlichen Verkündigung als Grund und Bedingung für die Einsicht in das Wirken des Heiligen Geistes sowie seine Eigenart bezeichnet. Er hat in Anlehnung an Joh 16,7, wo es heißt: „Es ist gut für euch, daß ich fortgehe. Denn wenn ich nicht fortgehe, wird der Beistand nicht zu euch kommen; gehe ich aber, so werde ich ihn zu euch senden“ auf den Zusammenhang zwischen der Abwesenheit des Erhöhten und dem Kommen des Geistes hingewiesen. Die Enzyklika betont die Abhängigkeit der beiden Ereignisse voneinander, indem das Fortgehen Jesu als Bedingung für das Kommen des Geistes angesehen wird und in einem bestimmten Sinn, nämlich dem, dass sich im Kreuzestod Jesu Proexistenz vollendet, auch als soteriologischer Grund für die Sendung des Geistes angesehen werden kann (vgl. 8). „Die Erlösung, vom Sohne Gottes vollbracht in den Dimensionen der irdischen Geschichte des Menschen – vollbracht in seinem ‚Fortgehen‘ durch Kreuz und Auferstehung – wird zugleich in ihrer vollen erlösenden Kraft dem Heiligen Geist übertragen: demjenigen, der ‚von dem Meinen nehmen wird‘. Die Worte des johanneischen Textes zeigen, daß das ‚Fortgehen‘ Christi im göttlichen Heilsplan unerläßliche Bedingung für die Sendung und das Kommen des Heiligen Geistes ist; sie besagen aber auch, daß Gott dann beginnt, sich im Heiligen Geist zu unserem Heil erneut mitzuteilen.“ (11) Dem Fortgehen Christi wird erlösende Bedeutung beigemessen, weil in ihm, verstanden als Jesu Gang zum Vater, Gott sich mit dem toten Jesus identifiziert. Es bedeutet aber auch, dass Jesus nicht durch sich in der Welt gegenwärtig ist.
Wir dürfen also nicht wie selbstverständlich von seiner Gegenwart ausgehen. Diese Einsicht des päpstlichen Rundschreibens ist von grundlegender Bedeutung. Sie ist jedoch in den vergangenen dreißig Jahren kaum rezipiert worden. Das verwundert umso mehr, wenn man bedenkt, dass die Enzyklika mit dem Anspruch formuliert worden ist, die schon von Papst Paul VI. benannten pneumatologischen Defizite in den Texten des Zweiten Vatikanischen Konzils zu beheben.
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Erneuter Szenenwechsel: Es gibt kaum eine Bewegung innerhalb des Christentums, die im letzten Jahrhundert eine den Pfingstkirchen vergleichbare Dynamik entfacht und Bedeutung bekommen hat. Im Pentekostalismus spielt die Erfahrung des Geistes, spielen Geisttaufe, Sprachengabe und Heilungen eine entscheidende Rolle. Doch nicht nur das. Ebenso entscheidend scheint mir zu sein, dass innere Erfahrungen kommuniziert werden. Der Geistempfang, das Erfülltsein und das Ergriffensein vom Geist: sie werden geoutet.
Jedes Coming-out ist mit der Dekonstruktion vorgegebener Normativität verbunden. Das gilt hier in einem zweifachen Sinn: Erstens hinsichtlich dessen, was zu glauben ist, also der Frage des Glaubensgehorsams und zweitens hinsichtlich des Verhaltenskodexes, dass Privates nicht in die Öffentlichkeit gehöre (und mein Glaube Privatsache sei).
Facebook und Twitter – ist es nur ein Zufall, dass sie in der gleichen Region wie der Pentekostalismus, nämlich in Kalifornien entstanden sind? – haben die öffentliche Landschaft verändert. Nicht das Politische, sondern die sozialen Netzwerke, in denen Privates und Intimes gepostet werden und im Schutz des virtuellen Raumes gepostet werden können, dominieren die Debatte. Im geschützten Raum der Gemeinde bestimmt die innere Erfahrung des Geistes die öffentliche (Zungen)Rede des pentekostalen Pneumatikers. Dass diese Praxis vielfältige kritische Fragen aufwirft und als problembehaftet gelten muss, weiß ich natürlich. Aber ich will es hier ausblenden und den roten Faden wieder aufnehmen. Der lautet nämlich, dass es nicht das Zeugnis des Kerygmatikers gibt, sondern dass wir es mit vielfältigen und sich vielleicht nicht immer auf den ersten Blick hin erschließenden Zeugnissen der verschiedensten Kerygmatiker zu tun haben.
So hat Michael Welker den Heiligen Geist angesichts der pentekostalen Bewegung und angesichts der pluralen Gesellschaft als die Einheit der vielfältigen Perspektiven auf Jesus Christus bezeichnet.[12] Die Pluriformität des Christuszeugnisses selbst sei geistgewirkt und damit für ihn unhintergehbar. Die Person des Geistes ist die Resonanz, die Christus in den Menschen findet. „Pastoral stellt sich gegenwärtig die Herausforderung einer angemessenen Vernetzung pentekostaler Spir. u. Vergemeinschaftung mit kirchlich-parochialen Glaubens- und Lebensvollzügen.“ Dieses Zitat stammt allerdings nicht von Welker. Es stammt von Franz- Peter Tebartz-van Elst.[13] Die lokale Kirchenentwicklung versucht m.E. dieser Herausforderung zu begegnen.
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Erneuter Szenenwechsel: In Verbindung mit der lehramtlich festgelegten Normativität des Glaubens als des gehorsam Anzunehmenden erscheint das traditionsorientierte Konzept einer Weitergabe des Glaubens in einer pluralen Gesellschaft nahezu aussichtslos. Es ist missionarisch ohnmächtig, um Abgrenzung und die eigene Identität bemüht, um Reinerhaltung und objektiv verbürgte Authentizität.
Die Hauptsorge lautet, dass es nicht zu einem Traditionsbruch kommen dürfe. Das dem entsprechende Hauptanliegen ist es, Kontinuität zu sichern. Neuerungen werden deshalb apriori skeptisch beurteilt und oft zunächst einmal reflexartig zurückgewiesen. Wir kennen den Preis.
Wir müssen damit rechnen, dass Kontinuität in diesem Sinn nicht aufrechterhalten werden kann, dass es zu einem Traditionsbruch kommt. Das sage ich in Bezug auf die Pastoral in Deutschland, die ich mitten in einem solchen Bruch sehe. Wir haben es längst mit einer „Enttraditionalisierung und Entinstitutionalisierung von Religion“ (H. Westerink) zu tun. Wir sollten uns freimütig Gedanken darüber machen, wie schlimm oder dramatisch ein solcher Traditionsbruch für die Kirche ist. Für eine Kirche, die auf die Selbstgegenwart Jesu Christi setzt, ist er eine Katastrophe. Für eine Kirche, die auf die geschichtliche Abwesenheit Jesus Christi und die diese Diskontinuität überwindende Kontinuität des Geistes im Handeln und im vielfältigen Zeugnis der Gläubigen für Jesus Christus setzt, bin ich optimistischer. Allerdings würde ich mich nicht zu dem Urteil hinreißen lassen, zu behaupten, dass die Krise der Tradition die Stunde des Geistes sei. Aber ich plädiere mit Welker für eine pneumatologische Wende im Christuszeugnis. Dabei geht es nicht um Beliebigkeit. Es geht vielmehr darum, vom Glaubensvollzug des Gottesvolkes auszugehen und diesen als konstitutiv für das kirchliche Handeln anzusehen.
Beispielhaft kommt das für mich in der Segensbitte des 2013 neu gewählten Papstes zum Ausdruck. Bevor er den Segen erteilt, hat Franziskus die auf dem Petersplatz versammelten Menschen dazu aufgefordert, den Herrn anzurufen und ihn um den Segen für ihn, den neu gewählten Bischof von Rom, zu bitten, damit er dem Volk Gottes den Segen des Herrn erteilen könne. Dem stillen Gebet der Gemeinde hat er sich sodann ausdrücklich angeschlossen. Mit seiner Segenserteilung hat er zum Ausdruck gebracht, dass er das Bischofsamt als das erhörte Gebet des Volkes versteht, dem die Verheißung der Treue Gottes gilt. Sein amtlicher Dienst besteht darin, dem Volk die unbedingte Treue Gottes zuzusagen, indem er den Segen des Herrn erteilt. Der epikletische Anruf des erhöhten Herrn, die epikletische Unmittelbarkeit der Menschen zu Gott, sie werden damit zur Voraussetzung und Bedingung für das Handeln des Bischofs. Er sieht sein Handeln als durch das Gebet der Gemeinde vermittelt an. Und das gilt, wie ich in meiner Ekklesiologie[14] zu zeigen versucht habe, für alle kirchlichen Vollzüge. Zum vielfältigen Zeugnis dieser epikletischen Unmittelbarkeit zu Gott in Liturgie, Verkündigung und Diakonie sollen und können die Menschen immer wieder aufgefordert und ermutigt werden, weil der Geist Gottes als Verheißung der Treue Gottes den Menschen die solidarische Gegenwart Gottes im Anderen je neu bezeugt. In diesem Sinn sind die Menschen in ihrer Hinwendung zu Gott unersetzbar Trägerinnen und Träger der Kirche und ihrer Vollzüge.
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Ich komme zum Schluss: Archiv als Ort der Zukunft – Kirche als Ort der Zukunft? Die Bonner Ausstellung zum Tanztheater Pina Bausch steht am Ende eines dreijährigen Projektes, in dem sich die Jüngerinnen und Jünger des Tanztheaters Gedanken darum gemacht haben, wie das Tanztheater ohne Pina weitergeführt werden kann.
Klaus Hemmerle hat unnachahmlich einmal die Frage gestellt: „Wie geht es weiter, wenn es nicht mehr weiter geht?“ Die gleiche Frage werden sich wohl auch die Jünger und Jüngerinnen Jesu nach seinem Tod am Kreuz gestellt haben. Die gleiche Frage könnten wir uns heute in der Gemeindepastoral stellen. Wie können wir weiter den Geist Christi miteinander teilen und unsere Lebenserfahrungen mit ihm Gestalt werden lassen, nachdem die zentrale Rolle des Choreographen, das heißt des Pfarrers, der Christi Selbstgegenwart in der Kirche nach katholischem Verständnis maßgeblich repräsentiert, nicht mehr besetzt ist und nicht mehr besetzt werden kann? Wie können wir aktiv die Sendung der Kirche, „das Evangelium Christi als Quelle der Hoffnung für die Menschen und der Erneuerung für die Gesellschaft zu künden“ (Christifideles Laici 29) Gestalt gewinnen lassen?
Die Jüngerinnen und Jünger des Tanztheaters haben eine Stiftung gegründet. Sie haben sich Gedanken gemacht, wie Archivmaterialien multiperspektivisch so erschlossen werden können, dass sie das Vergangene vergegenwärtigen und es zugleich applizierend verinnerlichen. Sie haben zur Ausstellung ein Buch unter dem Titel O-Ton Pina Bausch herausgebracht, in dem Interviews und Reden dokumentiert werden. Sie haben ganz gewöhnliche Menschen ins Tanzen einbezogen. Sie haben Interviews gegeben, haben für den Erhalt des Tanztheaters in Wuppertal gekämpft. Sie sind wieder auf Tournee gegangen, haben die alten Stücke wieder gegeben und neue Performances inszeniert. Mit anderen Worten: Sie haben Orte geschaffen, an denen Erfahrungen im Geist von Pina Bausch gemacht und gesammelt und neue Zugänge zu ihrem Leben und Schaffen erschlossen werden können. Sie werden übrigens im kommenden Jahr eine neue Choreographin bekommen, die sich dieser Form der Ortsbezogenheit wird stellen müssen.
All das ist in strukturell ähnlicher Weise aus der frühen Geschichte der Christen bekannt. Von all dem kann man für die Erneuerung der Pastoral lernen, einer Pastoral, die vom Zeugnis des Volk Gottes ausgeht, welches vom Heiligen Geist erfüllt mit großer innerkirchlicher und gesellschaftlicher Freimut das Wort Gottes verkündet (Apg 4,31), weil es Kontinuität von der Zukunft, genauer davon, dass sich Gott durch die Sendung seines Geistes auch künftig als treu erweist, erwartet.
Eine solche Pastoral wird dann, so meine These, erfolgreich sein, wenn sie Orte schafft, an denen man Gott anrufen kann und den Anruf Gottes spürt, an denen man geistliche oder wenn sie so wollen, spirituelle und soziale Erfahrungen machen und sammeln kann: Orte der Stille und Solidarität, Orte der Bildung und Beratung, Orte des Pilgerns und der Feste, Orte, an denen man sich treffen und versammeln kann, Orte die einen Zugang zu Jesus Christus und seinem Werk eröffnen. Menschen heute suchen diese Orte. Sie nutzen sie. Menschen heute brauchen – um ein Vergleich aus einem anderen Bereich zu wählen – kein Auto, sie wollen Zugang zur Mobilität. Dazu nutzen sie alle Verkehrsträger, auch Fahrräder und Autos, wenn sie der Öffentlichkeit an erreichbaren Orten zur Verfügung gestellt werden. Die Orte müssen also öffentlich zugänglich und jederzeit erreichbar sein Sie müssen identifizierbar einen Zugang zu Gott, zur Spiritualität und zum religiösen Leben ermöglichen. Darüber, so mein Vorschlag, sollten wir miteinander reden.
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Postscriptum: Bevor wir in das Gespräch eintreten, möchte ich Ihnen mit einem Zitat von Julia Knop die Dimension dessen vor Augen stellen, worüber wir reden. Sie schreibt in ihrem jüngst erschienenen Kommentar zu Amoris laetitia: „Kirchliche Doktrin als Orientierungshilfe für geistliche Prozesse zu begreifen und fruchtbar zu machen – das birgt durchaus Potential zu einer tektonischen Verschiebung im Verständnis kirchlicher Lehre. Das konnte so wohl erst im 21. Jahrhundert gesagt und verstanden werden. Faktisch sind persönliche Überzeugung und Relevanzerleben an die Stelle von doktrinellen Vorgaben und Gesetzesgehorsam getreten. Die Bindung an kirchliche Lehre und Moral wird nicht mehr als Heilsbedingung, sondern als eine Lebensoption neben anderen empfunden, die man mit Gründen, aber in Freiheit, wählt oder eben nicht.“[15] Diese Einsicht lässt sich in zwei Richtungen fortführen: Erstens dahingehend, dass den geistlichen Prozessen kirchenamtlich Wertschätzung und Anerkennung gebührt, weil sie als Werk des Heiligen Geistes, der nach Dominum et vivificantem als das „Geschenk der Wahrheit des Gewissens und der Gewissheit der Erlösung“ eingeführt wird, angesehen werden müssen und zweitens dahingehend, dass sie als Heiligungsgeschehen (!) durch das Recht und die Rechtsordnung geschützt werden müssen. Wenn man von diesen Eckpunkten her die prinzipielle Bedeutung von Personen und Orten, durch die und an denen Gott adressierbar ist, für die Ekklesiologie wieder mehr betont, nämlich in dem Sinn wie es bei Pius XII., Johannes XXIII. und Paul VI. üblich war, ist die bemerkte Akzentverlagerung mehr als Rückbesinnung denn als tektonische Verschiebung einzustufen.
©Prof. Dr. Michael Böhnke
Die drei Bücher über den Heiligen Geist von Michael Böhnke sind:
Kirche in der Glaubenskrise: Eine pneumatologische Skizze zur Ekklesiologie und zugleich eine theologische Grundlegung des Kirchenrechts. Herder, Freiburg/Basel/Wien 2013
Gottes Geist im Handeln der Menschen. Praktische Pneumatologie. Herder, Freiburg/Basel/Wien 2017
Geistbewegte Gottesrede. Pneumatologische Zugänge zur Trinität. Herder, Freiburg/Basel/Wien 2021
[1] Referat, gehalten auf der Konferenz der Seelsorgeamtsleiter und Seelsorgeamtsleiterinnen am 22.06.2016 in Hildesheim.
[2] www.bundeskunsthalle.de/ausstellungen/pina‐bausch.html (05.03.2016)
[3] Cornelis van der Kooi, Die Phänomenologie des Heiligen Geistes im Spätwerk Karl Barths in: Der Heilige Geist und das christliche Leben nach Karl Barth (ZDTh 60) Leipzig 2014, 33–49, 40f. unter Bezugnahme auf: Eberhard Busch, Meine Zeit mit Karl Barth, Göttingen 2011, 230.
[4] Gregor Etzelmüller, Der Geist Jesu Christi. Pneumatologische Grundentscheidungen in der Kirchlichen Dogmatik, in: ebd., 7–32, 18.
[5] Karl Barth, KD IV,1 724.
[6] Vgl. Christian Hennecke, Kirche, die über den Jordan geht. Expeditionen ins Land der Verheißung, Münster 4 2010, 39.
[7] Der Zusammenhang wird durch Rino Fisichella in seinem Kommentar zum Motu Proprio „Fides per Doctrinam“ konstruiert: „Die Weitergabe des Glaubens verlangt danach, die Katechese zu einem privilegierten Moment der Bildung zu machen, um zu verhindern, dass Unterbrechungen und Unbeständigkeit den Glauben in eine ernsthafte Krise bringen.“ http://www.annusfidei.va/content/novaevangelizatio/de/segreteria/FidesPerDoctrinam.html (17.05.2016)
[8] U. Schnelle, Johannes als Geisttheologie, NT 40,1 (1998), 17–31.
[9] J. Rahner, Vergegenwärtigende Erinnerung. Die Abschiedsreden, der Geist‐Paraklet und die Retrospektive des Johannesevangeliums, in: ZNW 91,1/2 (2000), 72–90, 90.
[10] O. Dilschneider, Die Geistvergessenheit der Theologie. Epilog zur Diskussion über den historischen Jesus und kerygmatischen Christus, in: ThLZ 86 (1961), 255‐266. Die folgenden Seitenangaben im Text beziehen sich auf diesen Aufsatz.
[11] P. Johannes Paul II., Enzyklika Dominum et vivificantem. Über den heiligen Geist im Leben der Kirche und der Welt vom 18. Mai 1986, zit. nach: http://www.vatican.va/content/john-paul-ii/de/encyclicals/documents/hf_jp-ii_enc_18051986_dominum-et-vivificantem.html, Nr. 11 (10.11.2015). Die folgenden Angaben im Text beziehen sich auf die Abschnitte der Enzyklika.
[12] M. Welker, Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, Neukirchen‐Vluyn 21993.
[13] F.‐P. Tebartz‐van Elst, Pfingstbewegung III. Kirche, Mission u. P., in: LThK3 1999, Bd. 8, 184–186, 186.
[14] Michael Böhnke, Kirche in der Glaubenskrise. Eine pneumatologische Skizze zur Ekklesiologie und zugleich eine theologische Grundlegung des Kirchenrechts, Freiburg – Basel – Wien 2013.
[15] J. Knop, Amoris laetitia – Über die Liebe in der Familie Ein Kommentar, in: Dies., J. Loffeld (Hg.), Ganz familiär. Die Bischofssynode 2014/2015 in der Debatte, Regensburg 2016, 13‐39, 38.